Mitleidvolle Blicke statt Punsch & gute Gespräche
Kennst du das auch? Da gehst du mal vor dir Türe, es ist ein besonderes Ereignis -zumindest in unserer kleinen Welt: dem Leben mit unserer chronischen Erkrankung- und da sind die anderen. Ganz viele andere Menschen. Menschen, die wir flüchtig kennen, die wir von früher kennen, die uns von früher kennen – mehr oder weniger oberflächlich.
Diese Menschen
Diese Menschen, die uns vom Sport, von kulturellen Veranstaltungen, von Elternabenden oder vom Spielfeldrand kennen, so wie wir früher waren – aktiv und (fast) immer dabei. Ohne Einschränkungen, mit viel Spaß, mitunter Lärm und gerne bis spät am Abend.
Dieser Blick
Und diese Menschen sehen uns an, häufig grüßen sie uns – und dann ist da dieser Blick!
So voller Mitleid, so voller „Oh, die Arme!“, „Oh, wie schlimm!“
Kennst du diesen Blick?
Neulich auf dem Weihnachtsmarkt an der Schule meiner Kinder habe ich ihn wieder gesehen diesen Blick- und zwar zigfach.
Kontakte aus dem alten Leben
Das bleibt nicht aus in einer kleinen Stadt, wo gefühlt jeder jeden kennt, und auch ich die halbe Elternschaft zumindest vom Sehen und ein Viertel von eben diesen früheren Events. Von meinen sozialen Kontakten in meinem früheren Leben als ich noch gesund, fit und aktiv war.
Durch meine Erkrankung sind diese Kontakte allesamt eingeschlafen. Ich bin halt nicht mehr hingegangen – zum Sport, zum Wochenmarkt, zu Elternabenden und großen Geburtstagsparties. Und anfangs haben mir Freunde erzählt „Xy hat nach dir gefragt, gefragt, wo du bleibst.“, doch das ist mit den Jahren weniger geworden. Die Kontakte sind eingeschlafen und doch bin ich sicher, dass ein Großteil der Menschen weiß, dass ich krank bin. Nur mit ihnen darüber gesprochen hatte ich noch nicht.
Nach Jahren das erste Mal
Und jetzt war es soweit: Weihnachtsmarkt. Ich war Jahre nicht auf einem Weihnachtsmarkt (zu voll, zu eng, zu anstrengend für meinen Körper etc. etc.), doch dieses Jahr war etwas anders: ich hatte mir vorgenommen einen weiteren Wunsch zu erfüllen und wieder auf eine Aktivität weniger zu verzichten. In meinem Rahmen zwar, aber immerhin, ich wollte dabei sein.
Außerdem waren meine Kinder ganz heiß darauf mir diese Markt zu zeigen (hier war ich noch nie) und die Bedingungen waren denkbar günstig: keine weite Anfahrt, da direkt im Dorf, das Wetter trocken und nicht zu kalt – und ich habe die ganze Woche gut auf mich achten können und Energie gespart und es lagen in den Tage danach keine dringenden Termine an. Also könnte ich meinem Körper anschließend die Ruhe gönnen, die er nach solchen Eskapaden braucht. 💪
Also, nichts wie los zum Weihnachtsmarkt🎄
gestalteten Werkstücke, die die Schüler verkaufen würden.
Und ganz besonders freute ich mich auf das „Sehen und Gesehen werden“. Ich hatte solche Lust diese Menschen zu treffen, die ich lange nicht gesehen hatte, ich hatte Lust zu hören, wie es ihnen ergangen war. Hatte Lust auf Small Talk und drauf den einen oder anderen Kontakt vielleicht wiederzubeleben.
Und dann kam alles anders…
Das kleine Detail, das alles änderte: ich war mit meinem Rollstuhl gekommen. Das Schulgelände ist groß, so weit kann ich nicht laufen. Und ich wollte eine Stunde oder sogar 1,5 Stunden bleiben. Solange kann ich nicht stehen.
Und das beste ist, ich war so fine mit der Situation, voller Vorfreude und voller Dankbarkeit, dass ich eben diese Unterstützung hatte und diesen Möglichmacher!
Aber das ist eben meine Sicht der Dinge, und die Menschen, die mir nahe stehen, mich kennen und mit mir über meine Situation geredet haben, wissen das auch.
Aber alle anderen nicht! Wie ernüchternd.
So viele Menschen haben mich gegrüßt – aber über ein freundliches „Oh, hallo!“ im Vorbeigehen sind wir nicht hinausgekommen. Kein Small Talk, kein Kontakte wiederbeleben. 😔
Immer diese Blicke…
Aber ganz viele betroffene Gesichter, ganz viel -unangebrachtes- Mitleid. Mit-Leid. Mit mir muss keiner leiden. Ich leide jedenfalls nicht, aber diese Menschen schon. Wenn sie mich sehen.
Das hat mich ganz schön auf den Boden der Tatsachen geholt. Menschen leiden, weil sie mich sehen.
Diese verstohlenen Blicke, dieses Bedauern.
Sie sehen den Vergleich Vorher – Nachher und stellen sich vor, dass mein Leben zu Ende ist.
Aber hey, das ist es nicht.
Und hey, das geht euch gar nichts an! Urteilt nicht über mich und macht nicht, dass mein Leben vorbei ist. Wann mein Leben vorbei ist, bestimme immer noch ich ganz allein!
Was macht das mit mir?
Es macht mich traurig und wütend. Allein meine Anwesenheit scheint ein Problem zu sein, macht die schöne weihnachtliche Stimmung kaputt. Oder zumindest die Anwesenheit meines Rollstuhls.
Ihr stülpt mir da eine Bewertung über, die absolut falsch ist. Ich möchte schreien: alles ist gut! Sorgt euch nicht! Ihr braucht euch nicht schlecht fühlen.
Aber das ist nicht meine Aufgabe!
Und mein Verstand fängt an zu analysieren: „Das ist bestimmt nur Unsicherheit. Sie wissen nicht damit umzugehen, sie wissen nicht, was sie sagen sollen.“
Ja, mag sein, oder eben auch nicht. Ist letztlich egal.
Das ist ihre Unsicherheit und damit nicht meine Baustelle. Das sind ihre Emotionen und die kann und will ich ihnen nicht nehmen.
Und jetzt?
Ich schaue bei mir!!!
- Ich genieße, dass ich dort bin!
- Ich genieße, dass ich dort bin!
- Ich genieße, dass ich dort bin!
- Ich genieße, dass ich dort bin!
- Ich genieße, dass ich dort bin!
- Ich lasse der Enttäuschung, dass meine Erwartungen hinsichtlich der sozialen Kontakte nicht erfüllt werden, nicht mehr Raum als unbedingt nötig. In anderen Worten, ich bearbeite sie zu gegebener Zeit, denn das ist unausweichlich, aber ich lasse mit davon den Tag nicht verderben.
- Ich lasse die Emotionen der anderen zu. Es sind nur Emotionen, die werden wieder vorbeigehen. Ich muss sie jedenfalls jetzt nicht retten. Dafür sind sie selbst verantwortlich.
- Ich werde bei der nächsten, ähnlichen Begebenheit vorbereitet sein und versuchen neue Kontakt zu knüpfen – mit Menschen die mich eben nicht von früher kennen oder zumindest offener sind.
- Bis dahin übe ich mich in Geduld und genieße die Zeit mit den Menschen, die mir nahe stehen, und die ganz ungezwungen mit mir und meinem Lieblings-Hilfsmittel in die Öffentlichkeit gehen. DANKE, dass es euch gibt🙏😘
Ich jedenfalls fühle mich nicht schlecht, ich bin begeistert darüber, dass ich tatsächlich auf dem Weihnachtsmarkt bin- und zwar nicht auf irgendeinem, sondern dem meiner Kinder ❤️🎄
Wie geht es DIR damit?
Kennst du diese Blicke? Was macht das mit dir? Und wie gehst du damit um?
Lass es mich wissen und schreib es unbedingt in die Kommentare!
Schreibe einen Kommentar